Mindestens in Präsident Wladimir Putins Machtapparat ist die Botschaft, die er mit seinem Auftritt vom Donnerstagabend aussenden wollte, angekommen. Der Westen solle „Angst haben und zittern“, sagte Andrej Kartapolow, der Leiter des Verteidigungsausschusses im Unterhaus, der Staatsnachrichtenagentur TASS, nachdem Putin gesagt hatte, Russland habe eine „neue Mittelstreckenrakete“ gegen die Ukraine eingesetzt. „Unsere Sache ist gerecht, der Sieg wird unser sein“, versicherte Kartapolow.
Putins Stellvertreter im Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrats, Dmitrij Medwedjew, verbreitete auf der (in Russland blockierten, aber über VPN erreichbaren) Plattform X Schwarz-Weiß-Bilder, die angeblich die Serie von Explosionen am Donnerstagmorgen in der Stadt Dnipro zeigen: „Also das wolltet ihr? Jetzt habt ihr es verdammt gut bekommen! Eine Attacke mit einer ballistischen Überschallrakete“, schrieb Medwedjew in leicht falschem Englisch.
Im Staatsfernsehen triumphierte der Politologe Dmitrij Jewstafjew, Russland habe begonnen, den Westen „an Schmerzen zu gewöhnen“, weil der Westen durch den Raketenschlag auf den Industrie- und Rüstungsbetrieb „Juschmasch“ in Dnipro „Eigentum und Geld“ verloren habe. Jewstafjew bezeichnete das Unternehmen mit dem früheren sowjetischen Namen, obwohl es mittlerweile „Piwdenmasch“ heißt und in Wirklichkeit nicht westlichen Ländern oder Investoren gehört, sondern ein ukrainischer Staatsbetrieb ist. Dass das Werk „zerstört“ sei, hatte auch Putin in seiner knapp achtminütigen Ansprache gesagt, während die örtlichen Behörden am Donnerstag lediglich von Schäden gesprochen hatten.
Mittelstrecken- oder Interkontinentalrakete?
Auch bestehen Zweifel daran, ob Russland wirklich eine neue Mittelstreckenrakete eingesetzt hat – respektive, wie Putin sich ausdrückte, „unter Gefechtsbedingungen getestet“ habe. Auch eine Drohung an die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer stellte Putin in diesen Rahmen: „Die Objekte zur Zerstörung im Rahmen weiterer Tests unserer neuesten Raketenkomplexe werden von uns ausgehend von den Bedrohungen der Sicherheit der Russischen Föderation bestimmt.“
Die angebliche neue Waffe soll Oreschnik (Nussstrauch) heißen, so hätten sie „unsere Raketentechniker“ genannt, sagte Putin und lächelte. Russlands Präsident lebt stets auf, wenn er über Waffen spricht und lässt üblicherweise keine Gelegenheit aus, um sein Publikum mit Ausführungen über Raketen je nach Perspektive zu entzücken oder zu entsetzen. Er und seine Funktionäre verkünden immer wieder und mit Blick auf dieselben Waffen, diese würden „letzte Tests“ absolvieren oder demnächst in Dienst genommen. Das geht teils jahrelang so, etwa bei der Interkontinentalrakete Sarmat. Dass Putin wirklich über seine Oreschnik Stillschweigen bewahrt haben sollte, weckt daher Skepsis.
Das ukrainische Fachportal „Defense Express“ erinnerte nun daran, dass es in der russischen Rüstungsindustrie gängig sei, dieselbe Waffe doppelt zu benennen, etwa den Ch-101-Marschflugkörper auch als Isdelije 504 (Produkt 504). Oreschnik könne sich als Teil „des Mittelstreckenraketenprogramms“ RS-26 Rubesch herausstellen. Die Neubenennung solle „Furcht säen“ und „die Illusion einer neu entwickelten Rakete mit unbekannten Fähigkeiten schaffen“. Der unabhängige Rüstungsfachmann Pawel Podwig bezeichnete die von Putin genannte zehnfache Überschallgeschwindigkeit des Geschosses als „normal“ für eine Rakete mit 1000 Kilometern Reichweite. Sogar der Kriegsbegleiter der kremltreuen „Komsomolskaja Prawda“ Alexandr Koz sprach auf Telegram von der angeblichen neuen Rakete als einer möglichen „Weiterentwicklung“ der RS-26 Rubesch. So sahen es auch andere sogenannte Z-Kriegskanäle in Russland, und so stellte es auch eine Sprecherin des amerikanischen Verteidigungsministeriums am Donnerstag dar.
Sie bezeichnete die RS-26 aber nicht als Mittelstrecken-, sondern als Interkontinentalrakete. Auch in der ersten Mitteilung der ukrainischen Luftwaffe zum Angriff auf Dnipro war von einer solchen Rakete die Rede gewesen. Mittelstreckenraketen haben eine Reichweite zwischen 800 und 5500 Kilometern, Interkontinentalraketen eine größere Reichweite. Die Frage, was die RS-26 Rubesch für eine Waffe ist, ist alt. Sie hatte im Jahr 2015 gar grundsätzliche Bedeutung, wobei die Darstellungen damals genau andersherum waren als heute: Damals bestand Russland darauf, es handele sich um eine „erfolgreich getestete“ Interkontinentalrakete, während die Vereinigten Staaten davon ausgingen, dass die Reichweite unter 5500 Kilometern liege. Washington sah daher den INF-Vertrag zur Beseitigung aller landgestützten atomaren Mittelstreckensysteme verletzt.
Peskow: Haben die USA zuvor informiert
Der Streit über das Rubesch-Projekt, das 2018 laut russischen Berichten eingestellt wurde, war dann nicht einmal die drängendste unter vielen Streitfragen, die 2019 zum Ende des Vertrags führten, für das Putin am Donnerstagabend neuerlich die Vereinigten Staaten verantwortlich machte: Der damalige amerikanische Vorwurf der bewussten Täuschung durch Russland bezog sich insbesondere auf den Marschflugkörper 9M729, im NATO-Sprachgebrauch SSC-8, der nach westlicher Überzeugung eine Reichweite von mehr als 2000 Kilometern, nach russischer Darlegung dagegen von 480 Kilometern hat und damit knapp unterhalb der 500-Kilometer-Schwelle des INF-Vertrags blieb.
Die Verwirrung darüber, was Russland denn nun für eine Rakete abgefeuert hat, machte auch vor Putins Sprecher nicht halt. Der sagte am Donnerstagabend zunächst, Russland habe weder die USA noch ein anderes Land vom Start der Oreschnik in Kenntnis gesetzt: Es habe „keinerlei Notifizierung“ gegeben, da Russland bei Mittelstreckenraketen nicht dazu verpflichtet sei. Kurz darauf gab Dmitrij Peskow aber doch zu, Russland habe die USA „gewarnt“, und zwar „30 Minuten vor dem Start“, mit einer „automatischen Meldung“ über das beim Verteidigungsministerium angesiedelte Russische Nationale Zentrum zur Verringerung nuklearer Gefahr, das mit einem entsprechenden amerikanischen System verbunden sei.
Wenig Präzision, hohe Kosten – aber ein Signal
Anlass für die Korrektur war offenbar, dass die Nachrichtenagentur Reuters kurz nach Peskows erster Wortmeldung eine amerikanische Quelle zitierte, derzufolge Moskau Washington „kurz vor dem Angriff“ davon in Kenntnis gesetzt hatte. Bald darauf bestätigte dies die Pentagon-Sprecherin und verwies ebenfalls auf „Kanäle zur Verringerung des nuklearen Risikos“. Laut Rüstungsfachmann Podwig müsste Russland die Amerikaner über den Start einer Interkontinentalrakete 24 Stunden zuvor informieren. Vermutlich entschied Moskau, Washington vorsichtshalber über den Start der Rakete zu unterrichten, um gefährliche Missverständnisse zu vermeiden. Denn ob eine Rakete mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet ist oder „in diesem Falle nicht nuklear bestückt“, wie Putin sagte, ist für die Satellitenüberwachung nicht ersichtlich.
Wie etliche Fachleute bezweifelte Podwig den militärischen Sinn eines solchen Raketenschlages wegen dessen „geringer Präzision“ und „hoher Kosten“. Doch könne der Angriff „einen Wert als Signal haben“. Dieses sollte Putin überlassen bleiben. Offenkundig deshalb erhielt die Sprecherin des russischen Außenministeriums am Donnerstagnachmittag während einer Pressekonferenz jenen Anruf, den man hörte, weil ihr Mikrofon angeschaltet blieb: Eine Männerstimme verbot ihr, den Angriff auf Dnipro zu kommentieren. Russische Journalisten erkannten die Stimme wieder als die von Alexej Gromow, der im Kreml für die Lenkung der Medien zuständig ist.
Putin trat dann im selben Raum vor dunkelbrauner Holztäfelung auf, in dem er schon seine Ansprache zum Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 gehalten hatte. Zuvor war der Präsident zwei Wochen nicht aktuell in Erscheinung getreten. Nun stellte Putin den russischen Raketenangriff als Reaktion auf den ukrainischen Einsatz amerikanischer ATACMS- und HIMARS-Raketen sowie britischer Storm-Shadow-Marschflugkörper gegen militärische Ziele in Westrussland dar und sprach von einer „Eskalation“ durch „die USA und ihre NATO-Verbündeten“.
Putin unterscheidet zwischen russischen und neu annektierten Gebieten
Einerseits fiel dabei neuerlich auf, wie Putin zwischen den 2014 und 2022 annektierten ukrainischen Gebieten und Territorien unterscheidet, die auch völkerrechtlich zu Russland gehören. Denn gegen Ziele in den angeschlossenen Gebieten, die (nur) aus Moskauer Sicht zu Russland gehören, setzt das ukrainische Militär schon seit Längerem alle vom Westen zur Verfügung gestellten Waffentypen ein. HIMARS-Raketen kamen vermutlich auch schon zuvor im Gebiet Kursk zum Einsatz, mindestens bei einem ukrainischen Schlag im August, der wohl Dutzende russische Soldaten tötete. Über diesen Angriff bewahrte Russland Stillschweigen. Auch jetzt redete Putin die Folgen der neuen Angriffe klein: Sie seien „abgewehrt“ worden, hätten „ihre Ziele nicht erreicht“.
Zugleich konzedierte Putin, dass es beim Storm-Shadow- und HIMARS-Angriff auf einen Kommandopunkt im Kursker Gebiet Tote und Verletzte gegeben habe. Der ukrainische „Defense Express“ hatte geschrieben, dass in dem am Mittwoch – nicht am Donnerstag, wie Putin sagte – angegriffenen Gebäude neben russischen auch ranghohe Militärs aus Nordkorea gewesen sein könnten, und das „Wall Street Journal“ meldete unter Berufung auf westliche Quellen, ein nordkoreanischer General sei verwundet worden.