Mehr als 800.000 Soldaten soll Russland seit dem Kriegsbeginn im Februar 2022 in der Ukraine durch Tod oder Verletzungen verloren haben, so lauten die jüngsten Zahlen des ukrainischen Generalstabs. Allein in 2024 seien rund 427.000 russische Soldaten verletzt oder getötet worden, hatte Oberbefehlshaber Oleksandr Syrskyj zuvor bereits zum Jahreswechsel mitgeteilt. Der Hauptgrund dafür seien zahlreiche „Fleischwolf“-Attacken, bei denen Russland „Rekordverluste“ erleide, erklärte Syrskyj.
Ein russischer Deserteur bestätigte nun gegenüber der „Moscow Times“ enorme Verluste bei der russischen Armee. Diese würden von Kommandeuren bereitwillig in Kauf genommen, erklärte Alexei Schilyajew, der demnach als Sanitär in der Ostukraine gedient hat und dabei auch bei der Bergung verletzter und getöteter Soldaten eingesetzt wurde.
Russischer Deserteur berichtet: „Von 15 kommen nur drei zurück“
„Von einer 15-köpfigen Angriffsgruppe kommen möglicherweise nur drei lebend zurück. Im Durchschnitt haben wir etwa sieben russische und ein oder zwei ukrainische Leichen evakuiert“, zitiert die „Moscow Times“ den Deserteur. Während Russland auf „Fleischangriffe“ setze, schicke die Ukraine Drohnen statt Soldaten, berichtete der Russe weiter: „Es gibt Schwärme ukrainischer Drohnen, manchmal fünf pro Soldat.“
Die Angaben Schilyajews lassen sich im Detail nicht unabhängig überprüfen, erklärt die Zeitung. Das in Georgien ansässige Aussteigerprojekt „Idite Lesom“ („Geh durch den Wald“) habe jedoch bestätigt, dass Schilyajew mithilfe der Gruppe desertiert und zuvor in der Ukraine im Einsatz gewesen sei.
Tausende russische Soldaten sterben im „Fleischwolf“
Seit Kriegsbeginn gibt es immer wieder Berichte über die tödliche „Fleischwolf“-Taktik, bei der massenweise Infanterie an die Front geschickt wird, um durch schiere Überzahl den Gegner zu überrennen. Erst setzte die Wagner-Gruppe den „Fleischwolf“ in Bachmut ein, dann die russische Armee in anderen umkämpften Städten wie Awdijiwka oder nun in der Schlacht um Pokrowsk.
Die Ukraine hat unterdessen ihre Drohnenproduktion seit Kriegsbeginn enorm gesteigert und setzt die Fluggeräte nicht nur für Angriffe auf Ziele in Russland, sondern auch an der Front ein. Russland verfüge zwar ebenfalls über Drohnen, erklärte Schilyajew nun, setze diese jedoch auf andere, mitunter menschenverachtende Weise ein.
„Kommandeure nutzen hochtechnologische Drohnen oft nur, um Angriffe auf mehreren Bildschirmen wie bei einem Videospiel zu verfolgen“, sagte Schilyajew. „Ein Drohnenpilot erzählte mir, er hat einfach dagesessen und zugesehen, wie Massen von Menschen starben, ohne einzugreifen.“
Hohe russische Verluste: Genaue Zahlen sind nicht bekannt
Wie hoch die russischen Verluste tatsächlich sind, lässt sich nicht genau beziffern. Moskau nennt keine Zahlen – zudem haben Kriegsparteien stets das Interesse, die Verluste des Gegners möglichst hoch zu beziffern.
Mehr als 84.000 Todesfälle unter russischen Soldaten konnte das Exilmedium Mediazona zusammen mit dem russischsprachigen Dienst der BBC anhand öffentlich zugänglicher Dokumente in Russland bisher nachweisen. Die Daten seien jedoch nur „mit erheblicher Verzögerung“ zugänglich, erklärt Mediazona. 2024 sei dennoch „das Jahr mit den meisten Todesopfern des Krieges“ gewesen, heißt es weiter.
Deserteur: „Todesschwadron“ dient in Putins Armee als Strafe
Bei den tödlichen „Fleischangriffen“ kamen zu Beginn vor allem Häftlinge zum Einsatz, die sich für den Militärdienst gemeldet hatten, um ihrer Gefängnisstrafe zu entgehen. Laut Schilyajew dient die gefürchtete Taktik jedoch auch als Bestrafung innerhalb der russischen Armee.
In den Sturmbrigaden landeten Soldaten, die etwa dafür bestraft worden seien, sich nicht rasiert zu haben. Aber auch sonstige „unerwünschte“ Kameraden seien dort gelandet. Ebenso Soldaten, die mit Hepatitis C infiziert gewesen seien, berichtete der ehemalige Armee-Sanitäter. „Einige werden in die Sturmtrupps gezwungen – im Grunde sind das Todesschwadronen mit einer Überlebensrate von fast null“, so Schilyajew.
Anarchie in besetzten Gebieten: „Können tun, was sie wollen“
In den besetzten Gebieten herrsche völlige Gesetzlosigkeit, erklärte der Deserteur weiter. „Obwohl die Verfassung besagt, dass die besetzten Gebiete russisch sind, wird hier niemand durch Gesetze geschützt. Die Kommandeure können tun, was sie wollen.“
Besonders ukrainische Kriegsgefangene und Zivilisten seien in höchster Gefahr, erklärte der Ex-Sanitäter, der nach Frankreich geflohen ist und dort Asyl beantragt hat. Strafen für den Mord an Zivilisten gibt es bei der russischen Armee laut Schilyajew nicht.
„Die Leute, die wir ‚befreien‘ sollten, hassten uns“
Dass es nicht darum gegangen sei, Menschen in der Ukraine zu „befreien“, wie Kremlchef Putin es gesagt habe, sei allen russischen Soldaten zudem sofort klar gewesen. „Die Leute, die wir laut Putin ‚befreien‘ sollten, hassten uns und zeigten das schon durch ihre Blicke“, berichtete Schilyajew von den Begegnungen mit ukrainischen Zivilisten. „Ich wusste, dass ich Teil der Besatzungsmacht war – jeder Soldat dort wusste das“, führte der Deserteur aus. „Die Zivilisten zu Hause sind es, die das immer noch nicht kapieren.“
Der Gedanke zur Flucht sei ihm schließlich gekommen, als ihm klar geworden sei, dass selbst die Soldaten, die er als Sanitäter zunächst erfolgreich gerettet hatte, nur wenige Wochen später doch gestorben seien. „Das passierte immer wieder. Da wurde mir klar, wie bedeutungslos meine Arbeit aus medizinischer Sicht war“, führte der 39-jährige gelernte IT-Spezialist aus. „Der Lebenszyklus eines russischen Soldaten endet unweigerlich mit einem Angriff, bei dem man töten oder getötet werden muss. Und ich möchte weder das eine noch das andere tun.“
Deserteur gibt Information preis: „Ängste im Krieg zurückgelassen“
Heute bereue er nicht, dass er als Sanitäter versucht habe, Leben zu retten. Dennoch leide er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und befinde sich in Frankreich nun in psychologischer Behandlung, erklärte Schilyajew. Es sei ihm aber wichtig, seine Geschichte zu erzählen. „Alle Ängste, die ich jemals haben könnte, habe ich im Krieg zurückgelassen“, sagt Schilyajew. Er hoffe, dass er nun helfen könne, dass die Menschen in seiner Heimat erkennen, dass „an diesem Krieg nichts richtig ist.“
Russische Deserteure leben allerdings gefährlich. Der prominenteste russische Überläufer, ein Pilot der im August 2023 samt Militärhubschrauber in die Ukraine desertiert war, und dort schließlich Interviews gegeben hatte, wurde im Februar 2024 in Spanien mit Schusswunden tot aufgefunden. Die Hintergründe seines Todes gelten bis heute als unklar.