Es ist noch früher Abend, da sind bereits Tausende auf den Beinen in der Hamburger Innenstadt. Die “Omas gegen Rechts”, Eltern mit Kindern, Schulklassen, Paare. Manche tragen Plakate, auf denen steht: „Schön hier, ohne Nazis”. Die Menschen strömen in Richtung des Rathauses, wo Alice Weidel sie später an diesem Abend als “Schlägerbande” bezeichnen und mit der “SA” vergleichen wird, der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP.
Die Kanzlerkandidatin der AfD ist zu Gast im Format „Fraktion im Dialog“, das die Partei regelmäßig im Rathaus veranstaltet. Erst im Dezember hatte Alexander Gauland zum zweiten Mal daran teilgenommen. Peter Tschentscher, Erster Bürgermeister, sprach von „ungebetenen Gästen“ und erinnerte auf dem Kurznachrichtendienst „X“ an die Verfassung Hamburgs, in deren Präambel Vielfalt und Weltoffenheit als identitätsstiftend für die hanseatische Stadtgesellschaft genannt werden.
Die Partei selbst nutzt die Proteste, um die Klage vom Ende der Meinungsfreiheit zu unterfüttern, wobei die „Mutigen und Unterdrückten“ im Großen Festsaal des Rathauses sitzen und in Fernsehkameras aller großer Sender sprechen.
Radiosender spielt “Schrei nach Liebe” in Dauerschleife
Im Großen Festsaal sind schnell alle Plätze belegt, Zuschauer müssen auf benachbarte Räume ausweichen. Ein Pianist spielt „Imagine“ auf dem Klavier. Alice Weidel verspätet sich, schuld sind natürlich die „Zustände da draußen”, wo inzwischen mehr als 16 000 Menschen “Alle zusammen gegen den Faschismus” skandieren, aufgerufen hatte das „Hamburger Bündnis gegen Rechts”. Immer wieder wird der Song „Schrei nach Liebe“ angestimmt, den die Band „Die Ärzte“ in den Neunzigerjahren nach rechtsextremen Übergriffen auf Migranten in deutschen Städten schrieben. Der Hamburger Radiosender ahoy Radio spielt das Lied in Dauerschleife.
Die Hamburger Versammlungsbehörde hatte zunächst Proteste in Hör- und Sichtweite des Veranstaltungsorts untersagen wollen, ließ letztlich aber doch eine Kundgebung zu. Nach der Eskalation beim Bundesparteitag der AfD in Riesa offenbaren die Behörden einmal mehr Unsicherheit im Umgang mit der rechtsextremen Partei. In der sächsischen Kleinstadt war es am vergangenen Wochenende zu Tumulten zwischen Polizei und Gegendemonstranten gekommen, ein parlamentarischer Beobachter der Linken wurde bewusstlos geschlagen.
Auch in Hamburg gibt es vereinzelt Zusammenstöße mit der Polizei, Demonstranten vermummen sich, versuchen die Polizeiabsperrung zu durchbrechen. Auf ihrem Banner steht: „Gegen die Politik der Rechten und Reichen“. Die Polizei nimmt mindestens zwei junge Menschen fest, beide singen von „Gerechtigkeit“, als sie weggebracht werden. Die Einsatzleitung wird später von einem Pfeffersprayeinsatz und einer ansonsten „gewaltfrei verlaufenden Versammlung“ berichten.
Alice Weidel hat ihre Rhetorik noch mal verschärft
Im Bannkreis referiert Alice Weidel das Wahlprogramm ihrer Partei, auch wenn dies keine Wahlkampfveranstaltung sein soll. Sie trägt einen Pullover mit roten Herzen, den trage sie eigens für die Antifa, sagt sie. Sie benutzt das Wort “Remigration” gleich mehrfach in einem Satz, auf dass es bald allen leicht über die Lippen gehe. „Turbo-Einbürgerung“, „Verramschung des deutschen Passes“, all das wolle man stoppen, wenn man erst das Sagen habe. Sie setzt Anführungszeichen mit den Fingern, wenn sie das Wort Pandemie benutzt, so als hätte sie gar nicht gegeben. Sie sagt, alle anderen Parteien seien eine „Ansammlung von Schwachköpfen“, und glucksende Begeisterung rollt durch den Marmorsaal, dessen Ehrwürdigkeit sie gerade noch gelobt hat.
In den letzten Wochen hat Alice Weidel ihre Rhetorik noch einmal verschärft. Als sie in Riesa einen Abriss von Windrädern forderte, mit dem Satz: „Nieder mit den Windmühlen der Schande!“, war das eine Referenz an Björn Höckes Verunglimpfung des Berliner Holocaust-Mahnmals als „Denkmal der Schande“.
In Hamburg hält sie eine routinierte Rede, deren Versatzstücke erprobt sind: Sie betont, dass der Attentäter von Magdeburg „ein Araber“ gewesen sein, „ein Mann, der nicht unserem Land hätte sein sollen.“ Dass Taleb al-A. Fan der AfD war, einer ihrer Follower auf „X“, erwähnt sie nicht. „Natürlich war Adolf Hitler ein Linker“, wiederholt sie ihre These aus dem kruden Online-Talk mit Elon Musk. Da wird es kurz still im Festsaal, das scheint vielen Gästen dann doch zu abstrus. An manchen Stellen ihrer Rede ist gelöstes Lachen zu hören. Der zentrale Satz jedoch, die Kernbotschaft, wird nicht von Ironie begleitet, das meint sie sehr ernst: „Wir machen Politik für das deutsche Volk und für niemand anderen“, sagt Alice Weidel. Spätestens da ist klar, wer dazugehören wird, wenn die AfD das Sagen hat und wer nicht.
Kurz vor Ende der Veranstaltung springt ein junger Mann auf, reckt die Faust in die Luft und brüllt: „Widerstand ist überall, ihr wollt 1933 zurück, ihr könnt erzählen, was ihr wollt.“ Er wird eilig aus dem Saal geführt.